Meine größte Angst
Mit einem Ruck setzte ich mich im Bett auf und sah mich um. Es war noch dunkel draußen und demzufolge konnte ich kaum etwas in dem Zimmer erkennen. Lediglich der schwache Schein des Mondes warf spärliches Licht durch die offenen Rillen der Fensterrolladen und ließ mich schwache Umrisse der im Zimmer befindlichen Möbel erkennen. Immer noch verwirrt sah ich weiter um mich. Ich saß in meinem Bett, die Decke war etwas herunter gerutscht und ich bemerkte ein leichtes Frösteln. Offensichtlich hatte ich mich zu fest zugedeckt, da mein T-Shirt durch das resultierende Schwitzen ganz feucht geworden war, was sich nun durch den Anflug von Kälte bemerkbar machte. Ich legte mich mit einem Seufzen wieder zurück aufs Kissen und wollte gerade die Decke bis zum Kinn hochziehen, als ich meine volle Blase bemerkte. Mit verdrehten Augen und einem, diesmal genervten, Seufzer stand ich auf und machte mich auf den Weg ins Bad. Diesen Vorgang hatte ich schon unzählige Male gemacht und daher fand ich mich blind zurecht und musste meine Augen nicht mit grellem Deckenlicht foltern. Geübt öffnete ich die Tür, betrat den Gang, ließ die anderen Türen rechts und links liegen und steuerte zielsicher das Bad an. Wie in Trance hoben sich meine Arme um so einen möglichen Aufprall mit der Wand bzw. der evtl. geschlossenen Badtür abfangen zu können. Schon oft hatte mein Kopf Bekanntschaft mit dem Türpfosten machen müssen, da ich zu Unrecht angenommen hatte, dass ich den Eingang ins Bad exakt treffen würde.
Während ich schlaftrunken das Licht einschaltete bemerkte ich einen seltsamen Geschmack in meinem Mund. Ich dachte mir nichts dabei und schob es auf die üblichen Bakterien-ansammlungen, die sich bei jedem über Nacht im Mundraum tummeln konnten, bevor sie dann beim morgendlichen Zähneputzen vergrault wurden. Doch irgendwas war anders. Während ich auf der Toilette saß analysierte ich den Geschmack genauer. Er war irgendwie metallisch und erinnerte mich sofort an Blut. Ganz verwunderte mich dieser Umstand allerdings nicht. Ich versuchte mich an den Vorabend zu erinnern. Wie jeden Abend reinigte ich meine Zähne mit Hilfe von Zahnseide von den Essensresten, die sich zwischen ihnen verfangen hatten. Drückte ich die Seide versehentlich zu fest zwischen die Zähne konnte es durchaus vorkommen, dass ich mir ins eigene Zahnfleisch schnitt und mir so eine kleine Wunde zulegte.
Mir fiel aber noch eine zweite Möglichkeit ein. Instinktiv legte ich einen meiner Finger auf die Lippe und prüfte ob etwas Blut auf der Fingerspitze zurück blieb. Und tatsächlich, ein kleiner Blutstropfen verteilte sich in den Rillen meines Zeigefingers. Genervt musste ich feststellen, dass ich mir wohl wieder die Lippe aufgerissen hatte. In letzter Zeit litt ich an sehr trockenen Lippen, obwohl ich sehr viel Flüssigkeit zu mir nahm. Meinen Lippen war das allerdings egal und so waren sie sehr spröde und sprangen regelmäßig auf. Meinen Verdacht konnte ich mit einem Blick in den Spiegel sogleich bestätigen, dachte ich mir und beendete meinen Klogang. Beim Händewaschen sah ich wie immer in den Spiegel und konzentrierte mich sogleich auf meine Lippen. Einen kleinen Riss suchte ich allerdings vergeblich. Also öffnete ich den Mund ein bisschen, um evtl. weiter hinten liegende Blutungsquellen ausfindig machen zu können.
Mit einem Satz sprang ich entsetzt nach hinten und war schlagartig hellwach.
Mit schreckgeweiteten Augen sah ich das Spiegelbild meines Mundes. Ich spürte wie mein Puls um das Doppelte anstieg und brach in Schweiß aus. Gegen meine Erwartungen sah ich keine annehmlich weißen Zähne, die sich brav aneinander reihten und so jederzeit zu einem sympathischen Lächeln beitragen konnten. Mit aufwallender Panik sah ich einer blutroten Schicht entgegen, die sich über alle meine Zähne gezogen hatte und diese komplett abdeckte. Als ich wieder näher an den Spiegel trat und meinen Mund langsam noch weiter öffnete wurde mir bewusst, dass der komplette Mundraum mit Blut gefüllt war. Wie gewöhnlich fuhr ich mit meiner, ebenfalls blutgetränkten, Zunge über meine Zähne und ließ somit zu, dass sich ein Schwall Blut über meine Unterlippe ergoss und langsam, vorbei an meinem Kinn, über den Hals lief und nur von meinem T-Shirt aufgehalten wurde. Entsetzt sah ich diesem Treiben zu und beobachtete das stete Wachsen des Flecks auf meinem Shirt, der als dunkles, fast schwarzes unförmiges Gebilde unaufhörlich wuchs und sich durch das satte Blau der Baumwolle fraß.
Angewidert spie ich das restliche Blut in das Waschbecken, ließ das Wasser laufen und beobachtete die Symbiose dieser zwei Flüssigkeiten, während sie in dem schnellen Strudel im Abguss verschwanden. Noch immer fuhr meine Zunge über meine Zähne als wolle sie jedes einzelne Blutkörperchen aus meinem Mundraum saugen und sich so des widerlichen Geschmacks auf ihr selbst entledigen. Als die Zungenspitze über meine Vorderzähne fuhr spürte ich allerdings nicht den harten Widerstand des Zahnes selbst. Die Fläche, die von der Zunge berührt wurde schien nachzugeben. Verwundert über diese Reaktion zog ich meine Zunge ein Stück zurück und ließ sie dann zu den Vorderzähnen zurückkehren. Doch wieder schienen sie nachzugeben. Nun brach ich vollends in Schweiß aus. Mit zitternden Fingern umfasste ich mit Daumen und Zeigefinger einen meiner Schneidezähne und bewegte sie hin und her. Als ich sah, dass der Zahn die Bewegung ohne Probleme mitmachte stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich ließ ihn sofort los, wischte mir über die Augen und atmete tief ein. Mein wie wild schlagendes Herz übertönte inzwischen das Geräusch der Toilette, das sie beim Auffüllen ihres Spülkastens von sich gab.
Warum ließ er sich bewegen? Offensichtlich war er locker, aber warum? Vielleicht war ich auch einfach nur verwirrt durch die entstandene Panik. Daher ließ ich es auf einen letzten Versuch ankommen.
Erneut atmete ich tief ein, hob die Hand und umfasste ein zweites Mal den scheinbar lockeren Zahn. Ich schloss die Augen, hielt die Luft an und zog. Mit einem schmatzenden Geräusch löste sich der Zahn scheinbar mühelos aus dem Zahnfleisch und glitt aus meinen Fingern um dann mit einem klirrenden Geräusch ins Waschbecken zu fallen. Wie erstarrt sah ich abwechselnd meine blutüberströmten Finger und den Zahn an, der sich inzwischen zwischen dem Kopf von dem Stöpsel und dem Abfluss verfangen hatte. Während ich einen neuen Blutstrom spürte, der sich zielsicher Richtung T-Shirt bewegte befreite ich vorsichtig den Zahn aus seiner misslichen Lage und legte ihn in meine Handfläche. Auf der glänzenden, blutroten, glatten Oberfläche wurde das Licht der Deckenlampe mehrfach gespiegelt. Ich bewegte meine Hand leicht hin und her und beobachtete das Farbenspiel, während Teile des Blutes sich in den Falten meiner Handfläche sammelten und so mehr Blick auf die eigentlich weiße Zahnfläche boten. Inzwischen rannen mir die Tränen das Gesicht hinunter und mischten sich am Kinn mit dem geronnenen Blut aus meinem Mund. Wimmernd legte ich den Zahn zur Seite und sah erneut in den Spiegel. Meine Tränen hatten einen Schleier um meine Augen gelegt, was mir jegliche klare Sicht verwehrte. Schluchzend fuhr ich mir daher mit dem Unterarm über das Gesicht, öffnete erneut den Mund und sah einer großen klaffenden Zahnlücke entgegen, die mir wie ein schwarzes Loch vorkam.
Unzählige Bilder von schadenfrohen Menschen schossen mir in den Kopf, die alle mit dem Finger auf mich zeigen würden, mich auslachen und sich über mich lustig machen würden. Nie wieder würde ich lachen können, geschweige denn lächeln. Weder der Strom aus Blut, noch der aus Tränen ließen sich stoppen. Inzwischen hatte die Verzweiflung klar die Oberhand gewonnen und ich tat genau das, was ich lieber hätte bleiben lassen sollen. Ich überprüfte die Standfestigkeit der anderen Zähne. Genauer konzentrierte ich mich auf die direkten Nachbarn des soeben entfernten Schneidezahnes. Das Bewegen ließ ich diesmal aus und packte sogleich den nächsten mit zwei Fingern am unteren Ende und zog. Obwohl diese Bewegung zaghafter war trat genau das ein, was ich befürchtet hatte. Auch dieser Zahn ließ sich mühelos aus seiner Verankerung ziehen und vergrößerte die Lücke somit um das Doppelte. Ich schrie auf, trat erneut einen Schritt zurück und starrte mit leerem Blick in den Spiegel. Meine Arme hingen lasch an meinem Körper. Der Zahn, den meine Hand noch soeben beherbergt hatte lag auf dem Teppich und ließ auch hier einen dunklen Fleck aus Blut entstehen. Ich nahm entfernt war, dass ich inzwischen regelrecht „Rotz‘ und Wasser“ heulte.
Trotzdem versuchte ich klar zu denken. Ich schloss die Augen und flüsterte leise vor mich hin: „Das muss ein Traum sein! Das muss ein Traum sein!“. Ich öffnete die Augen und sah mich um. Alles war so wie immer. Das Klo, die Dusche, das Waschbecken standen alle an ihrem Platz. Die dunklen Fliesen der Wand verschluckten Teile des warmen Deckenlichts. Ein leises Summen der Heizung verdeutlichte ihre Aufgabe den kleinen Raum warm zu halten. Der weiche Teppich unter meinen nackten Füßen lag ebenfalls genau da, wo er sein sollte. Als mein Blick meine Füße streifte kam ich nicht umhin auch den blutigen Zahn zu fokusieren, der immer noch einsam auf dem Teppich lag und auf dem das Blut langsam trocknete. Automatisch wanderte mein Blick an mir selbst hinauf. Ich erkannte meine Beine, die Boxershorts und mein Lieblingsshirt. Mit gesenktem Blick nahm ich den widerlichen, metalischen Geruch des Blutes wahr, das sich inzwischen auf dem kompletten oberen Teil des ehemals blauen T-Shirts verteilt hatte. Es fühlte sich kalt und nass an und der Geruch ließ sogar mich würgen. Meine Unterarme waren ebenfalls blut- und tränenverschmiert und begannen zu jucken. Langsam hob ich meinen Kopf und sah erneut in den Spiegel. Während des visuellen Rundgangs hatte ich meinen Mund leicht geöffnet gehabt, so dass mir sofort die Lücke ins Auge stach. Ein erneuter Anflug von Panik durchfuhr meinen Körper und die Tränen ergossen sich in einem neuen Schwall über mein verschmiertes Gesicht. Auf einmal überkam mich eine enorme Wut. Auf mich, meine Zähne, das viele Blut und die gesamte Situation. Mit beiden Händen packte ich zu und riss mir einen Zahn nach dem anderen aus der Mundhöhle. Sobald ich sie zwischen den Fingern hindurch gleiten spürte ließ ich sie ins Becken fallen, wo sie mit einem lauten Klirren irgendwann zum Stillstand kamen. Begleitet von einer Mischung aus Winseln, Weinen und einer großen Menge Blut hatte ich meine überstürzte Tat binnen weniger Sekunden zum Ende gebracht und blickte nun apathisch auf den Haufen Zähne, die im Waschbecken von dem immer noch laufenden Wasser vom Blut gereinigt wurden. Die kleineren Schneidezähne des Unterkiefers hatten sich nicht halten können und waren offensichtlich den Abguss hinab gerutscht. Natürlich hätte ich nachsehen können, indem ich den Stöpsel hob, doch es war mir egal. Mit einem leeren Blick wandte ich mich von dem Schlachtfeld ab, lehnte mich an die Wand und rutschte langsam an dieser herunter. Warm liefen mir die Tränen über das Gesicht, mischten sich mit den Blutströmen unterhalb meines Mundes und zogen ihre Bahnen in einem nie enden wollendem Strom über meinen Hals, wo sie nach kurzer Zeit ebenfalls von meinem Shirt gestoppt wurden.
Doch das nahm ich alles kaum noch wahr. Lediglich das Rauschen des Wasserhahns begleitete mich in meiner stillen Trauer, als ich auf dem blutverschmierten Teppich saß, mein Gesicht in den Händen vergrub und weinte.
Langsam öffnete ich die Augen. Ich wagte es nicht mich zu bewegen. Das helle, kalte Licht, das sich einen Weg durch den Rollladen bahnte verdeutlichte mir, dass die Sonne schon aufgegangen war und es früher Morgen sein musste. Immer noch wagte ich es nicht mich zu rühren. Lediglich meine Augen suchten die Umgebung ab. Ich spürte die Wärme meiner Decke, die mich bis zum Kinn bedeckte. Die angenehme Wärme überzog meinen kompletten Körper. Lediglich ein seltsames Gefühl meinerseits passte nicht in diese Stille. Irgendetwas stimmte nicht. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Mit einem tiefen Seufzer schloss ich meine Augen wie in Zeitlupe und flüsterte vor mich hin: „Es war nur ein Traum...“. Instinktiv fuhr meine Zunge über meine Zähne und bestätigte mir ihre Vollzähligkeit. Der von mir befürchtete metallische Geschmack war nicht vorhanden und ebenfalls vergeblich suchte ich eine Spur von mangelnder Festigkeit an jedem einzelnen Zahn.
Beruhigt und begleitet von einem erneuten erleichterten Seufzer drehte ich mich auf die Seite, schloss die Augen und schlief wenige Minuten später wieder ein.
"Where the spirit does not work with the hand there is no art"
- Leonardo da Vinci