Stille
„Tschüss! Viel Spaß!“, rief ich meinen Eltern hinterher und winkte theatralisch dem abfahrenden Auto nach.
Mit einem zufriedenen Lächeln wandte ich mich um und ging zurück ins Haus. Langsam ließ ich die Tür ins Schloss fallen, schloss die Augen und horchte. Nichts. Nicht ein Geräusch erreichte meine Ohren. Keine Stimmen, keine Maschinen, sogar die Natur schien draußen für einen kurzen Moment den Atem angehalten zu haben.
Mit einem Jauchzen riss ich meine Arme in die Höhe und brüllte: „Wooop! Sturmfreie Buudeee!“ Erschrocken über diese überschwängliche Tat hielt ich mir selbst den Mund zu und sah lauernd um mich. Nach ein paar Sekunden konnte ich feststellen, dass wohl niemand meinen Aufschrei mitbekommen hatte. Also ließ ich meine Hände sinken und gab ein breites Grinsen frei. Mit stolz geschwellter Brust schritt ich entschlossen ins Wohnzimmer. Ich hatte viel vor und niemand war da, um mich davon abzuhalten. Das Gefühl war überwältigend. Meine Eltern würden bis spät in die Nacht auf einem Geburtstag bleiben, was mir jegliche Möglichkeiten, die das leere Haus bot, eröffnete. Trotzdem beschränkte ich mich auf die Nutzung des Wohnzimmers, der Küche und hin und wieder des Badezimmers. Im Mittelpunkt des Abends stand der Fernseher. Ich hatte haufenweise DVDs, die darauf warteten abgespielt zu werden. Eines durfte natürlich absolut nicht fehlen: Proviant! Der Kühlschrank und die Vorratsschränke quollen über und bettelten geradezu darum um ihren Inhalt erleichtert zu werden.
Voller Vorfreude machte ich es mir vor dem Fernseher gemütlich. Vor mir eine Kanne Tee, Süßigkeiten und die Fernbedienungen immer in Reichweite. Eingewickelt in meine Lieblingsdecke fütterte ich den DVD-Player mit einer Disc und lehnte mich entspannt zurück.
Schon nach kurzer Zeit hatte mich der Film vollkommen eingenommen. Lediglich mein Schlürfen an der Teetasse oder die Geräusche, die mein Kauen lautstark in meinem Kopf widerhallen ließ, unterbrachen die Handlung ein wenig.
Inzwischen war es draußen dunkel geworden, was ich allerdings sehr spät wahrnahm. Nachdem ich die Kanne Tee zügig geleert hatte forderte die Natur schon bald ihren Tribut. Ich pausierte widerwillig den Film und wurde augenblicklich von der Stille übermannt. Um diese Zeit waren keine Vögel mehr durch das gekippte Fenster zu hören. Lediglich ein sanfter Wind strich durch die Blätter des Ahorns im Garten und ließ ein zartes Rauschen zurück. Mir schien es fast schon unpassend, als ich mich ächzend aus der Decke schälte und mich vom Sofa hoch wuchtete. Ich wollte allerdings diese nervige Nebenwirkung der Flüssigkeitsaufnahme rasch hinter mich bringen und eilte ins Bad.
Als ich das Bad erleichtert wieder verließ wollte ich gerade das Wohnzimmer ansteuern, als ich eine Bewegung in meinen Augenwinkeln wahrnahm. Nanu, ich habe doch niemanden gehört?! Seit wann lassen mich meine Ohren im Stich? Dass meine Eltern schon wieder zurückkehrten, konnte ich sofort ausschließen. Schließlich waren sie gerade einmal zwei Stunden weg. Meine Schlussfolgerungen schossen mir in einer unglaublichen Geschwindigkeit durch den Kopf, während ich mich in Richtung der Erscheinung drehte. Ganz meiner Erwartung entsprechend sah ich niemanden. Meine Augen hatten mir wohl einen Streich gespielt. Vermutlich durch das lange Konzentrieren auf den Film. Beruhigt lief ich den kurzen Gang entlang, in Gedanken schon wieder auf dem Sofa. Der schwache Schein des Standbilds am Fernseher leuchtete mir den Weg. Für diese, mir bestens bekannte, Strecke hatte ich auf das Deckenlicht verzichtet. Fast schon automatisch sah ich in den Spiegel, der sich auf Augenhöhe am Ende des Ganges befand. Ich sah mich selbst und erkannte mit jedem Schritt mehr Details von mir. Gleich liege ich wieder unter der warmen Decke und tauche ein in… Abrupt blieb ich stehen. Mir stockte der Atem und mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in den Spiegel. Angestrengt blickte ich an meinem Spiegelbild vorbei auf die Gestalt, die sich im Hintergrund aufgebaut hatte. Sie war durch das mangelnde Licht kaum auszumachen, doch sie war da. Am anderen Ende des Ganges stand jemand! Da ist niemand. Da kann einfach niemand sein. Ich habe niemanden gehört. Und ich höre auch jetzt niemanden. Da atmet keiner, es rascheln keine Klamotten, also steht da auch keiner! Ich führte innerlich Selbstgespräche, doch auch meine innere Stimme ließ es sich nicht nehmen, das Wort ebenfalls zu ergreifen: „Dreh‘ dich um! Hab keine Angst. Da ist niemand. Vertrau‘ mir! Dreh’ dich um!“- Ok… ok…
Solche Diskussionen kamen hin und wieder vor. Ich nannte meine innere Stimme auch Instinkt. Also das leise Wispern im Hinterkopf, das einen warnt oder auf das Offensichtliche hinweist. Und immer hat sie Recht.
Ich atmete langsam aus, rieb mir die Augen und drehte mich in Zeitlupe und mit geschlossenen Augen um. Ein kalter Schauer nach dem anderen jagte mir über den Rücken und hinterließ überall eine Gänsehaut. Ich spürte, dass ich inzwischen eine 180°-Drehung vollendet hatte und bereitete mich auf den nächsten Schritt vor. „Na los, öffne die Augen. Du wirst sehen, ich habe wieder Recht!“ Langsam, begleitet von einem tiefen Atemzug, öffnete ich erst das eine und dann das andere Auge. Und mein Instinkt sollte tatsächlich wieder Recht behalten haben. Lediglich die offene Glastür sah mir entgegen, die wie ein schwarzes Loch den schwachen Lichtschein aufsog, der sich seinen Weg durch das Fenster neben der Haustür bahnte. Nun konnte ich nicht umhin über meine eigene Furcht zu lachen. Wahrscheinlich habe ich nur mein eigenes Spiegelbild in der Glastür gesehen. Als ich mich nicht gerührt habe, hat sich die Gestalt natürlich auch nicht bewegt. Schmunzelnd wandte ich mich wieder um und schüttelte über meine eigene Fantasie den Kopf. Ich sollte einfach auf meinen Instinkt hören…
Schon kurze Zeit später saß ich wieder vor dem Fernseher und beendete den Film. Danach zappte ich gelangweilt durch das Programm, das die Sender um diese Zeit dem Zuschauer vor die hochgelegten Füße warfen. Meinen Erwartungen entsprechend lief absolut nichts Sehenswertes. War ja klar, dass nicht mal ein Horrorfilm läuft…- „Du hast gerade deinen persönlichen Horror erlebt“, warf mir mein Instinkt spöttisch entgegen. Genervt über meine eigene Aussage schwang ich mich wieder vom Sofa. Mein Ziel war diesmal nicht das Badezimmer, sondern mein eigenes Zimmer. Hier lagerte ich meine DVD-Sammlung. Wenn mir der Fernseher keinen unterhaltsamen Horrorfilm bot, müsste ich eben dafür Sorge tragen. Solche Situationen hatten, neben meiner Liebe zu Filmen, dazu beigetragen, dass ich mir über die Jahre eine beachtliche Sammlung an Filmen unterschiedlicher Genres zugelegt hatte. Abendliche Langeweile war somit unmöglich.
Wieder verzichtete ich auf das Betätigen der Lichtschalter, als ich durch die Glastür ins Treppenhaus trat und auf den kalten Steinstufen ins Untergeschoss schritt. Zielsicher fand ich meinen Weg durch den dunklen Gang in mein Zimmer. Meine Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt und so konnte ich schemenhaft jedes Möbelstück in diesem erkennen. Um jedoch den richtigen Film aus dem Regal fischen zu können musste ich mich wohl oder übel um künstliches Licht bemühen. Blind fand meine Hand den Schalter und warmes Licht durchfuhr den kleinen Raum. Reflexartig presste ich die Augen zusammen und gab automatisch einen gequälten Laut von mir. Obwohl ich Schuld an diesem Umstand war glitt mir automatisch ein „Ahh, Vorwarnung!“ über die Lippen. „Tja, ist ja nicht so, dass dir das nicht jedes Mal passieren würde.“, warf mir mein Instinkt ungefragt entgegen. Halt die Klappe, Besserwisser!
Schnell hatte ich einen Film gefunden und lief schnurstracks wieder Richtung Gang. Beiläufig löschte ich das Licht beim Herausgehen und wurde sofort von undurchdringbarer Dunkelheit erfasst. Ich ließ meinen Augen allerdings keine Zeit sich an die abermals veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen und lief einfach weiter. Zu schnell kam das graue Rechteck, das das Treppenhaus ankündigte, und machte mir deutlich, dass ich es wohl nicht treffen würde. Bevor ich eingreifen konnte prallte ich mit voller Wucht mit der linken Schulter gegen die Wand und ließ vor lauter Überraschung die DVD fallen.“ Auuu, verdammt nochmal!“, durchschnitt mein Aufschrei die Stille und übertönte den Aufprall des Films auf den Boden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hob ich mir die Schulter und unterbrach gedanklich den anrollenden Kommentar meines Instinkts: „Ich hab’s dir ja…“- Lass es!
Während ich in die Knie sank und mit meinen Händen den Boden nach der DVD absuchte, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Wenn auch nur einer meine gedanklichen Selbstgespräche hören könnte, würde man mich wahrscheinlich sofort einweisen lassen.“, flüsterte ich. Zeitgleich bekam ich die Plastikhülle des Films zu fassen.
Gerade als ich mich wieder in die Höhe gestemmt hatte vernahm ich wieder meinen inneren Klugscheißer: „Wieso Selbstgespräche?“ - Was? Du weißt, dass du ich bist, oder? Das, was du von dir gibst sage ebenfalls ich. Du bist sozusagen mein Unterbewusstsein und vertonst das, was ich schon längst weiß, aber manchmal nicht hören möchte. Siehst du, jetzt unterhalte ich mich schon wieder mir dir… Überrascht musste ich feststellen, dass ich gerade eine Diskussion mit mir selbst angefangen hatte. Ich stand immer noch am Fuß des Treppenhauses und schüttelte den Kopf, hoffend, dass dadurch das „Gespräch“ ein jähes Ende finden würde. Ich schritt auf die erste Stufe Richtung Erdgeschoss zu, als sich mir plötzlich die Nackenhaare aufstellten. Ich kannte dieses schauerhafte Gefühl nur zu gut und hielt daher erneut inne. Normalerweise hatte ich dieses Gefühl nur, wenn jemand hinter mir stand. Eine Art Warnsignal sozusagen. Doch ich war mir meiner Einsamkeit hier unten bewusst. „Lauf!“, riet mir mein Instinkt. Da mir mein Gehirn offensichtlich schon wieder einen Streich spielte, war es wohl am besten, wenn ich den Rat annahm. Doch mein Verstand wurde von meiner Neugier übermannt und ich beschloss diesem komischen Spuk ein für alle Mal auf den Grund zu gehen. Wenn ich meinem Gehirn unter genug Licht beweisen würde, dass ich allein im Haus war, würde es vielleicht endlich aufhören in meinem Kopf einen eigenen Horrorfilm zu produzieren.
Entschlossen machte ich daher auf dem Absatz kehrt und blickte angestrengt in die gähnende Schwärze des Ganges. „Dreh‘ endlich um und mach es dir wieder vor dem Fernseher gemütlich! Lass es doch einfach gut sein. Kannst du eine Sache nicht einfach mal hinnehmen?“ – Jahaaa, gleich.
Mit dieser knappen Antwort hoffte ich nur für kurze Zeit Ruhe vor meinen Gedanken zu bekommen, damit ich mich ganz auf die Dunkelheit konzentrieren konnte. Unbewusst klammerten sich meine Finger um die DVD und erzeugten ein leichtes Knirschen auf der schwachen Hülle. Leider konnte ich absolut nichts in dem Schwarz erkennen und so hob ich langsam meine Hand und legte meine Finger auf den Lichtschalter. Vor meinem inneren Auge erschien bereits das Bild des erleuchteten Ganges. In weiser Voraussicht schloss ich diesmal die Augen und betätigte entschlossen den Lichtschalter. Das leise Klicken des Schalters verdeutlichte mir das Vollenden meiner Tat. Durch meine Augenlider sah ich das grelle Licht der Lampe scheinen. Langsam und mit stark klopfendem Herzen öffnete ich die Augen und bemerkte erleichtert, dass sich das mir dargebotene Bild mit dem meiner Vorstellung deckte. Ich fasste mir an die Stirn und brach erneut in Gelächter aus: „Oh man, du Weichei. Ich habe einfach zu viele Horrorfilme gesehen.“
Um auch noch das letzte Quäntchen Zweifel vertreiben zu können lief ich ein paar Schritte in den Gang hinein. Meine Schritte hallten von den Wänden wieder und ich sah mich nun in meinem Irrtum bestätigt. Lächelnd drehte ich mich um und blieb wie angewurzelt stehen. Mit schreckgeweiteten Augen stieß ich einen Schrei aus. Die DVD entglitt erneut meinen Fingern, doch diesmal bekam ich es gar nicht mit. Was meine aufgerissenen Augen vor mir wahrnahmen konnte einfach nicht sein. Es durfte einfach nicht sein. Langsam bewegte ich mich rückwärts, um nur wenige Augenblicke später von der Wand aufgehalten zu werden. Ich spürte sie in meinem Rücken, schloss die Augen und murmelte: „Ich glaube ich drehe durch…“. Langsam öffnete ich wieder die Augen. „Neeiiiiinnn…“, schluchzte ich und mir traten die Tränen in die Augen. Ich spürte die anrollende Gänsehaut und durch den nassen Schleier versuchte ich zu analysieren, was sich vor mir manifestiert hatte. Ich blickte auf eine Gestalt. Ich wusste sofort, dass ich eben diese Gestalt vor einer Weile in dem Spiegel vor dem Wohnzimmer gesehen hatte. Doch diesmal erkannte ich sie. Diese Gestalt, diese Person war niemand anderes als ich selbst. Da stand ich und sah mich an. Doch es war nicht mein Spiegelbild, was ich mir im Moment so sehnlichst erhofft hatte. Denn mein Doppelgänger sah mir nicht komplett gleich. Diese Person war irgendwie verschwommen und wurde trotz des Deckenlichts nicht von dessen Schein eingenommen. Ein tiefer Schatten warf sich über dessen Gesicht. Bei genauerem Hinsehen konnte ich nicht einmal die Augen erkennen. Nur etwas war schemenhaft zu sehen: ein kaltes Lächeln. „Ich habe dir gesagt, dass du umdrehen sollst. Ich habe dir gesagt, dass du zurück ins Wohnzimmer gehen sollst. Doch du willst einfach nicht auf mich hören!“ Erstaunlicherweise konnte ich meinen Schockzustand überwinden und presste stotternd hervor: „Was… was willst du damit sagen? Du hast es mir gesagt?“- Das Lächeln wurde breiter und auf einmal vernahm ich wieder meine innere Stimme: „Ich will damit sagen…“, die Stimme schien zu pausieren, „DASS DU GEFÄLLIGST AUF MICH HÖREN SOLLST!“ Diese letzten Worte schrie mir mein Zwilling mit wutverzerrtem Gesicht entgegen und raste urplötzlich, wie an einer Schnur gezogen, auf mich zu. Instinktiv versuchte ich auszuweichen, doch die Wand in meinem Rücken verdeutlichte mir mein unmögliches Entrinnen. Panisch hob ich meine Arme schützend vor mein Gesicht und wandte mich schreiend ab. Ich wagte es nicht meine Augen zu öffnen. Wie erstarrt verharrte ich in meiner Position und wagte es kaum zu atmen. Mein Herz schien in einer Brust zu explodieren. Plötzlich bemerkte ich auf meiner Wange einen kalten Hauch, der kam und ging. Ich versuchte über mein Herzklopfen hinweg zu hören und vernahm das tiefe Atmen von der Gestalt, die sich offensichtlich direkt vor mir befand und mir seinen kalten Atem entgegen schleuderte. „Sieh‘ mich an!“ – „Nein! Bitte, geh‘ weg!“ – „Sieh‘ mich an! Sieh’ mich an! SIEH‘ MICH AN!“ Der Satz hallte unendlich in meinem Kopf nach und schien wie ein Echo hin und her geworfen zu werden. Auf einmal wurde der Befehl immer lauter und von mehreren Stimmen in verschiedenen Tonlagen wieder gegeben zu werden: „Sieh‘… sieh‘… mich… mich… mich… an… an…“ Es wurde immer unerträglicher. Verzweifelt hielt ich mir die Ohren zu und sank wimmernd in die Knie. „Hör auf! Bitte, hör auf! Es tut mir Leid! Ich werde in Zukunft auf dich hören!“ Um mein Vorhaben auch gleich unter Beweis stellen zu können löste ich meine Hände von meinen Ohren, wandte mich um und öffnete die Augen. Langsam sah ich an der Gestalt vor mir hoch und ließ meinen Blick nicht von ihr ab. Erst als ich die Augen erreicht hatte verharrte ich in meiner Position und wartete auf eine Reaktion. Still liefen mir Tränen über die Augen, doch ich zwang mich zu absoluter Bewegungslosigkeit. „Siehst du“, schluchzte ich schließlich, „ich höre auf dich. Ich schaue dich an.“ – „Ja, das sehe ich“, bemerkte eine allzu bekannte flüsternde Stimme. Mit dem Aussprechen des letzten Wortes beobachtete ich das sanfte Schwinden des dunklen Schattens vom Gesicht meines Doppelgängers. Langsam beugte er sich zu mir hinunter und ich blickte in meine eigenen Augen. Der kalte Atem war auf einmal verschwunden und ich konzentrierte mich ganz auf mich selbst. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie ihre Hände erhob, und mein Gesicht in diese legte. Mit ihrer Berührung breitete sich eine wohlige Wärme in mir aus und trocknete augenblicklich meine Tränen. Auf einmal verspürte ich eine angenehme Sicherheit und wusste, dass es jemanden gab, der auf mich aufpasste. Mit ihr an meiner Seite konnte mir absolut nichts passieren, solange ich sie respektierte und ihr für ihre Ratschläge dankbar war. Mit einem sanften Lächeln bestätigte mein Gegenüber meine Gedankengänge. „Siehst du, war doch gar nicht so schwer!“, ertönte die leise Stimme in meinem Hinterkopf und obwohl sich ihre Lippen nicht bewegt hatten, wusste ich, dass es von ihr gekommen war. Erleichtert schloss ich die Augen und lehnte mich mit dem Kopf an die Wand. Ich atmete ein paar Mal tief ein, lächelte und spürte auf einmal, wie sich die Hände langsam von meinen Wangen lösten. Das wohlige Gefühl verschwand und rasch öffnete ich die Augen. Ich fand den Gang allerdings leer vor. Nichts deutete darauf hin, dass ich hier bis gerade in doppelter Ausführung gestanden hatte. Ich griff mir vorsichtig an die Backen. Sie waren noch etwas warm, doch auch dieses Gefühl war schon bald verschwunden.
Habe ich gerade wirklich meinem Instinkt gegenüber gestanden? Meine eigene innere Stimme in Gestalt meiner selbst, die nach ihrem verdienten Respekt giert? –„Ich weiß nicht wovon du redest“, bemerkte meine innere Stimme mit ironischem Unterton. „Lass das bloß niemanden hören, sonst wirst du noch eingewiesen!“
Lächelnd erhob ich mich auf die Beine und lief eilenden Schrittes dem Treppenhaus entgegen. Ich setzte einen Fuß auf die erste Stufe, hielt kurz inne und flüsterte: „Zu Befehl...“
"Where the spirit does not work with the hand there is no art"
- Leonardo da Vinci